Kaum geht es auf Wahlen zu – oder wieder von ihnen weg – macht das Wort „Politikverdrossenheit“ die mediale Runde. Meistens wird dabei dieser vielschichtige Begriff nur zu einseitig verwendet. Schnell ist die Rede vom „satten“ Volk, dass einfach keine Lust mehr hat, sich mit Politik zu beschäftigen. Es sei zu anstrengend sich mit Texten in Zeitungen zu befassen und mit Hilfe der Nachrichten in Radio und Fernsehen eine politische Meinung zu bilden. Außerdem gehe es uns sowieso allen viel zu gut, da brauche man sich nicht mehr für Politik interessieren. Läuft bei uns Deutschen, so muss man meinen.
Auch heute noch wird – gerade der jungen Generation – immer wieder dieser Vorwurf gemacht. So auch zu lesen in einem ZDF Beitrag vom August 2017. Die jungen Wähler / Bürger seien Demokraten, aber eben bequeme Demokraten. Für sie sei der Parteienapparat „behäbig und mühselig und bürokratisch“, so der Sozialforscher Hurrelmann. Die Generation Internet müsse von der Politik da abgeholt werden, wo sie ist. Die jungen Wähler wollen auf Twitter eingebunden und informiert sein, sie wollen in sozialen Netzwerken diskutieren und sich informieren. Die Parteien müssen die jungen Leute entsprechend bedienen und dann klappt das schon mit dem interessierten Wähler.1
Ist das so?
Wenn das die Lösung wäre oder zumindest ein Teil der Lösung, müsste dann die Piratenpartei nicht Jahr für Jahr zunehmen in der Gunst der immer mehr internetisierten und sozial netzwerkenden Bevölkerung? Aber DIE hippe Partei schlechthin, die Digitalisierer, die Internetrevolution der Politik, verliert immer mehr an Wählergunst. Ist das nicht Hinweis genug darauf, dass dies kein Weg sein kann, mehr Wähler an die Wahlurne zu bringen? Wenn es aber nicht an technisch-gesellschaftlichen Veränderungen liegt, die die Wähler von der Urne fernhalten, woran liegt es dann?
Dazu sollte man sich noch einmal die Definition von Politikverdrossenheit genauer anschauen.
„Politikverdrossenheit bezeichnet eine negative Einstellung der Bürger in Bezug auf politische Aktivitäten und Strukturen, die sich unter Umständen in Desinteresse oder Ablehnung von Politik, ihrer Institutionen und politischem Handeln äußert. Diese Haltung kann generell die ganze politische Ordnung betreffen oder sich nur auf Ergebnisse politischer Prozesse beziehen“2
Nichts in dieser Definition stellt den Bürger als politisch unwillig dar oder als zu faul, sich um Politik zu kümmern. Dies ist häufig eben nicht der Fall. Zentrale Ursache für Politikverdrossenheit ist eine negative Einstellung zu politischen Aktivitäten oder Strukturen.
Was heißt das? Das bedeutet, dass der Glaube an und in die Demokratie immer mehr schwindet. Da wird häufig auch nicht unterschieden zwischen parlamentarischer oder Formen von direkter Demokratie. Inzwischen glaubt gerade einmal knapp die Hälfte der Deutschen, dass in der Demokratie das Volk wirklich etwas zu sagen hat.3 Wer ist dafür verantwortlich, wenn nicht die Politik? Dies gerät leider medial viel zu sehr aus dem Fokus.
Auch Sozialforscher haben das offenbar immer noch nicht verstanden, wie das obige Beispiel zeigt. Die „Schuld“ wird nach wie vor beim Bürger gesucht, immer wieder auf anderen Wegen, mal subtiler, mal offensichtlicher. Zweifel am System? Infragestellen der politischen Grundstruktur der parlamentarischen Demokratie? Ein „Ernstnehmen“ des Bürgers und dessen Meinung, die in vielen Umfragen dokumentiert ist? Fehlanzeige!
Nehmen wir das Beispiel Volksentscheid. 70% und mehr der Deutschen sind dafür, wie Umfragen immer wieder zeigen.4 Wären diese 70% etwa auch als politikverdrossen zu bezeichnen, weil sie sich mehr beteiligen wollen? Wohl nicht. Doch wie steht unsere Bundeskanzlerin dazu? In einem ARD- Interview ist ihre Meinung mehr als deutlich: „Meine Haltung ist absolut gefestigt, dass ich das unter keinen Umständen möchte.“5 Dem ist kaum etwas hinzuzufügen.
Schauen wir uns das gerade wieder populäre Thema „Glyphosat“ an. Umfragen zufolge sind zwischen 60 und 70% der EU-Bürger gegen die Erlaubnis des Pflanzenschutzmittelwirkstoffes.6 Wenn dann ein Minister im Alleingang und sogar noch entgegen der Absprache mit seinen Kollegen für eine Verwendung dieses Wirkstoffes stimmt, so muss man sich doch über „Politikverdrossenheit“ nicht wundern. Im Gegenteil, Schmidt kann in diesem Fall froh sein, wenn die einzige Reaktion der Bürger die „Politikverdrossenheit“ ist.
Auch bei den Themen Einsätze der Bundeswehr, Griechenlandrettung, etc… ließen sich ähnliche Diskrepanzen zwischen Volkswillen und Meinung der „Volksvertreter“ aufschlüsseln.
Eine Politikverdrossenheit – im Sinne einer „negativen Einstellung der Bürger in Bezug auf politische Aktivitäten und Strukturen“ lässt sich somit sehr gut nachvollziehen. Dabei sollte man bedenken, dass „Verdrossenheit“ von „Verdruss“ stammt und eben nicht nur „Langeweile“, sondern auch „Missmut“ und „Ärger“ bedeutet. Kein Wunder also, wenn die Wähler sich nicht von ihren gewählten „Vertretern“ vertreten fühlen, dass da Missmut und Ärger entsteht.
Zudem ist es interessant sich anzuschauen, wann der Begriff aufgekommen ist und richtig an Fahrt gewonnen hat. Ende der 60er als „Parlamentsverdrossenheit“ entstanden, wurde der Begriff 1992 richtig populär, als er zum „Wort des Jahres“ gekührt wurde. Ein Schelm wer dabei denkt, dass der Begriff so populär gemacht wurde, weil zu dieser Zeit die Wahlbeteiligung bereits spürbar sank. Konnte man so den Wähler bei der Ehre packen?
Vielleicht für kurze Zeit. Aber was den Bürger wirklich wieder an die Wahlurne zurück bringen würde wären Resultate. Wo findet das Wahlvolk denn positive Beispiele für Bürgerinitiativen, die Erfolg haben? Außer vielleicht mal auf lokaler Ebene sieht auch hier der „Erfolg“ für die Bürger mau aus. Die große Politik ist durch den kleinen Mann nicht zu bewegen.7 An direkte Beteiligung in politischen Fragen ist ebenfalls nicht zu denken. Das Volk ist und bleibt ein Souverän, der keiner ist.
Wenn dies den herrschenden Volksvertretern nicht recht wäre , so könnte man das doch ändern, oder?